Lyrik von Jan Volker Röhnert

fotoJan Volker Röhnert, Literaturwissenschaftler, Autor und Übersetzer, ist Heyne-Juniorprofessor für neuere und neueste Literatur in der technisch-wissenschaftlichen Welt am Institut für Germanistik an der TU Braunschweig.

Röhnert ist Autor mehrerer Gedichtbände (Autor der „Metropolen“ / Hanser 2007, „Notes from Sofia“ / Azur 2011, „Wolkenformeln“ / Edition Faust 2014 u.a.m. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und ist Mitglied im PEN-Zentrum DE. Am 14. Oktober war er Gast bei unserem Literaturabend im Roten Saal des Braunschweiger Schlosses. Zwei seiner noch unveröffentlichten Gedichte,  die er während der Reise nach Czernowitz und Lemberg in der Ukraine geschrieben hat, dürfen wir exklusiv an dieser Stelle veröffentlichen.

Das Gedicht „Die Atlantiden, Lemberg“ können wir mit folgendem Zitat vorstellen:
„Lemberg, heute Lwiw, war bis 1918 die Hauptstadt der österreichischen Provinz Galizien. Diese „habsburgische Atlantis“ erstreckte sich zwischen Krakau und Lemberg. Bis heute, vor allem dank den Büchern Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Bruno Schulz u. v .a. m, beflügelt sie die kollektive Erinnerung der Mitteleuropäer. Diese k. u. k.-Atlantis galt es auf der Reise zu entdecken.“ (Janusz Tycner, Zeit Reisen).

Das Gedicht „Ciconia nigra“ (Schwarzstorch, typisch für die Region Bukowina)  wird  Ihnen die wunderschöne Stadt Czernowitz näher bringen. Lesen Sie über Czernowitz in unserem Vereinsmagazin (siehe Link im vorigen Beitrag).

Die Atlantiden, Lemberg

Schwerelos, wenn es das gäbe,

tragen sie auf ihren Schultern

die Zeit, als gäb‘ es keine

Vergangenheit, als wären Grenzen

 

Fassadenstuck, die Balkone

blühende Vorsprünge im Meer, das

sich zwischen Kolchis und Baltik halbwegs

nicht entscheiden kann, an welche Küste

 

es schlägt: das Land ist erfunden,

die Mythen, die Sprache, die Menschen

nicht. Sie machen Musik auf der Straße,

lassen die Tauben tanzen, von

 

Pflaster- zu Pflasterstein ausgestellt

unter dem Dach eines Cafés,

das die Stadt überblickt, zwei

Meter vom leeren Synagogenfleck.

 

Die Prospekte mit ihren Passanten

im blauen Zenit der Kirchenkulissen

am Abend im Vollmond der Beats

eines Taxis, das zum Bahnhof schießt,

 

als pflügt‘ es die dunkle Seite des Monds.

In der polnischen Nacht der Nachhall

des Lemberger Sounds, Säulen, von Riesen

getragen, schwerelos Bilder, schweigend schön.

 

 

Ciconia nigra

 

Mittag

auf dem jüdischen Friedhof

von Czernowitz

Hier ruht

Cäcilie Billig

Leib Hirschmann, Armenrat

Realitätenbesitzer Edelstein

Regina Diamant 

beinah ägyptisch

die Sonne

über trockenem Gras

im Staub junge Hund

Steine, Dornen, verwitterte

Inschrift in orientalischem Deutsch

über Schutt in der Ritze

ein Vogelnest

jetzt Ende Sommer

leer wie die Kuppeln

darüber die Luft

plötzlich von Norden, Nordost

nähern sich Schwingen

gleiten, kreisen, schweben

stehen wie schwerelos

Flügelwesengeschwader

aufwindgetragen

zieht eine Schleife

gerade nach Süden

über die Felder, Heu

und das Wiesengestrüpp

meilenweit, Wochen

bis Ägypten

an diesem Mittag

verlassen die Schwarzstörche

Czernowitz

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