Spezialklinik

Tanja Makarchuk hat mit Andrij Kazachenko in Duderstadt gesprochen.

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Andrij Kazachenko, selbstständiger Unternehmer aus der Stadt Berdytschiw, hat seinen Einberufungsbescheid am 20. März 2014 erhalten. Andrij erzählt: „Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen Krieg. Ich wurde zunächst eingezogen, um eine Reservistenausbildung zu absolvieren. Diese Ausbildung sollte lediglich 10 Tage dauern. Aber im Anschluss daran, Anfang April, wurde meine Einheit an einen Truppenübungsplatz im Gebiet Mykolajiw verlegt. Es bestand die Gefahr eines Einmarsches russischer Truppen aus Transnistrien. Meine Einheit erhielt währenddessen keine besondere Ausbildung; hauptsächlich absolvierten wir Schießübungen mit einem Geschütz zur Panzerabwehr.

So verbrachten wir dort 3 Monate. Im Juli wurden wir in den Sektor „D“ (Anhöhe von Sawur-Mohyla, Amwrossijiwka, Stepaniwka – 3 bis 5 km vor der russischen Grenze – Anmerkung der Redaktion) versetzt. Im Grundwehrdienst wurde ich eigentlich als Funker ausgebildet. Jetzt wurde ich aber als Ladekanonier eingesetzt. Tagsüber sicherten wir die Stellungen, hoben Schützengräben aus und bauten Unterstände, nachts folgten dann Angriffe, die wir abwehren mussten. Hinzu kam ein fast täglicher, massiver Beschuss unserer Stellungen aus schwerer Artillerie und Raketenwerfersystemen, welcher unvermittelt vom russischen Territorium ausging. Wir wechselten wöchentlich unsere Stellungen entlang der Grenze. Meine Einheit befand sich durchgehend an der vorderste Verteidigungslinie.

Die Versorgung mit Lebensmitteln war mangelhaft. Die ehrenamtlichen Helfer, welche die Soldaten fast in der gesamten Krisenregion mit Lebensmitteln und lebenswichtigen Utensilien versorgen, kamen zu uns nicht durch. Einmal hatten wir ganze zehn Tage lang kein Brot zu essen. Wir retteten uns mit einem Glas Speck und Schiffszwieback über diese Zeit und waren froh darüber.

In den ersten Tagen an der Front stand ich neben mir. Dann habe ich versucht, diese Angst zu kontrollieren. Unser Major sagte uns: „Man muss drei Tage durchhalten, dann geht es weiter.“ Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, auch in solch einer unbegreiflichen Lage. Das einzige, an das ich mich nicht gewöhnen konnte, ist der Tod eines Kameraden.

Am 14. August zog sich unsere schwere Artillerie aus Amwrossijiwka zurück. Unser Auftrag war, diesen Rückzug als Panzerabwehrmannschaft zu sichern. Die betroffene Kolonne war bereits in Sicherheit und kurz nachdem wir unsere Geschütze eingeklappt hatten, gerieten wir in einen Hinterhalt. Wir fuhren oben auf dem Transporter, als wir von einer Hohlladung getroffen wurden. Durch einen anschließenden russischen Mörserbeschuss kamen zwei meiner Kameraden ums Leben, Petro Dubik, 27 Jahre, und Oleksandr Sokortschuk, 26 Jahre, junge Männer, die beide noch keine Familien gegründet hatten. Bei diesem Beschuss wurde mein Bein verletzt. Meine Kameraden versorgten mich mit einer Spritze. Mehr Hilfe konnten sie nicht leisten, da der Beschuss andauerte. Zuerst versuchte ich, wegzukriechen. Dann verstand ich, dass es sinnlos war, da meine Kräfte erschöpft waren. Mein Bein platzierte ich auf einer Geschosskiste; dadurch versuchte ich, die Blutung etwas zu stillen. Dann wusste ich, dass um mich herum weitere Munitionskisten zerstreut lagen, dass der nächste Artillerieschlag mein Ende sein würde und ich nahm bereits Abschied vom Leben. In diesem Moment verspürte ich keine Angst mehr, ich dachte nur an meine Familie. Wir verteidigen doch unsere Familien. Wir kämpfen nicht für unsere Regierung, wir kämpfen für unsere Kinder, für unser Land. Wir sind hier zu Hause, es ist unser Land, das wir verteidigen, wir werden in unserem eigenen Land angegriffen.

Ich hatte Glück. Nach etwa drei Stunden wurde ich von einem Panzer abgeholt und in ein Krankenhaus bei Amwrossijiwka gebracht. Zu einem späteren Zeitpunkt, im Feldlazarett Nr. 61, wurde mir mein Bein abgenommen. Zwei Tage war ich bewusstlos. Ich kam zu Bewusstsein, als ich mich bereits im Krankenhaus in Dnipropetrowsk befand.“

Andrijs Ehefrau Katja erzählt: „Andrij hat mir erst zwei Wochen vor seiner Verwundung verraten, wo er stationiert ist. Vorher sagte er mir nicht die Wahrheit, damit ich mir keine Sorgen mache. Am 15. August erhielt ich einen Anruf und mir wurde mitgeteilt, das Andrij schwer verletzt ist. Ich telefonierte alle Krankenhäuser in der Region ab und wurde schließlich in Amwrossijiwka fündig. Ich blieb die ganze Zeit über bei Andrij, erst in Dnipropetrowsk und schließlich in Kiew. Nach einem Monat konnte Andrij das erste Mal aufstehen. Er hat eine starke Natur und wenn er sich ein Ziel setzt, dann erreicht er es auch, egal wie schwierig es zu sein scheint.

Unsere zwei Töchter sind stolz auf ihn. Die ältere Tochter (10 Jahre) sagt: „Er hat unsere Familie und unsere Heimat verteidigt.“ Die jüngere Tochter (4 Jahre) hat ihrem Vater vor dem Kampfeinsatz einen kleinen Spielzeugdrachen als Glücksbringer geschenkt, welchen Andrij fortan unter der Schutzweste trug.
Unserer Familie haben sehr viele Menschen geholfen. Ehrenamtliche Helfer vor Ort waren für uns da und auch einfach unbekannte Menschen. Wir sind sehr dankbar für diese Hilfe.“

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Über seine Zukunft sagt Andrij: „Meine Zukunft beginnt mit der neuen Prothese. Ich habe viele Pläne. Wir können alle Ziele erreichen, aber dafür muss der Krieg enden. Das Wichtigste ist, dass Frieden im Land herrscht. Die Wahrheit ist auf unserer Seite, also werden wir siegen. Aber äußerst wichtig ist auch, dass unsere Jungs und ihre Familien nicht vergessen werden, dass im Grunde allen Menschen geholfen wird, die jetzt dringend Hilfe brauchen.“

Juli 2015, Tanja Makarchuk / Antje Levchenko

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