Meridian des großen Meisters der deutschen Sprache: Czernowitz-Paris-Ewigkeit

Bericht von Johann Trupp

Wer am Montag den 14.10.2019 um 19 Uhr im roten Saal im Residenzschloss in Braunschweig Platz genommen und auf der Bühne drei der gegenwärtig wichtigsten Autoren der Ukraine erblickt hat, die zum hundertsten Jubiläum von Paul Celan 2020 geladen haben, konnte nach etwa der Hälfte der vergangen Zeit missmutig den Eindruck gewonnen haben, die Herrschaften haben den Zweck der Veranstaltung aus den Augen verloren und den Jubilaren schlich und ergreifend vergessen, während sie nacheinander Auszüge aus ihren eigenen Büchern, Erzählungen, fast vergessenem und neu Verlegtem vortrugen. Dieser Eindruck konnte entstehen. Doch der Teufel steckt bekanntlich im Detail oder wie in diesem Fall in der detaillierten Betrachtungsweise.

Deshalb zunächst einmal von Anfang an.

Nach dem von Evgenia Lopata – Übersetzerin, Geschäftsleiterin des Literaturfestivals „Meridian Czernowitz“ und die Leiterin des Paul Celan Projekts, welches zusammen mit dem Verein „Freie Ukraine“ seit 2018 veranstaltet wird, vorstellte, wurde von Serhiy Zhadan, Autor und Träger des Brücke-Berlin-Preises 2014, die thematische Klammer des Abends weit aufgerissen. Für ihn ist Paul Celan eine Metapher für das 20. Jahrhundert. Sein Leben, seine Dichtung, seine Sprache kreuzt und spiegelt das erschütternde 20. Jahrhundert, lässt Kulturen verschmelzen und eine Kulturkarte der Ukraine ausbreiten, die nicht die sowjetische ist. Die Auseinandersetzung mit Paul Celan und seinem Werk öffnet der Welt eine andere Sicht, eine literarische Sicht auf die Ukraine, die, und das wurde mit dieser Veranstaltung impliziert, mit den anwesenden Autoren fortgeführt und ausgeweitet wird.

Wobei, und das bemerkt die Preisträgerin des Ingeborg Bachmann Preises 2018 Tanja Maljartschuk, erwähnt Paul Celan nur selten die Ukraine als Land in seinem Werk, was sie als jugendliche bestürzt hatte, war er doch ein ukrainischer Dichter. Aber auch Deutschland als Land erwähnt Paul Celan nur zweimal in seinen Gedichten, eins davon ist „Todesfuge“. Paul Celan war ein Lyriker, der sich der Realität durch abstrakte Bilder näherte und so Geschichte und reale Orte in Sprachformationen verwandelte, die die Ereignisse suchend umkreisten. Und solch ein Versuch Geschichte literarisch zu verarbeiten präsentierte Serhiy Zhadan mit dem Textauszug aus seinem Roman „Internat“, dass den Preis für die Übersetzung der Leipziger Buchmesse 2018 gewonnen hat, in deutscher Sprache von Marita Lux vorgetragen, in seiner kurzweiligen und prägnant ausdrucksstarken Sprache. So konnten sich die Zuhörer den aktuellen Krieg in der Ostukraine vergegenwärtigen.

Tanja Malartschuk nahm sich anschließend an, mit dem 2015 in der Wochenzeitung „Zeit“ erschienen Text „Für den Krieg zu alt, für Demenz zu jung“, eines der möglichen gegenwärtig Typen ukrainischen Mannes zu zeichnen, deren Brüche in seiner Biographie und seinem Charakter sich mit gesellschaftlichen und historischen Umbrüchen der Ukraine zu decken scheinen und auch als Metapher funktionieren. „Sein Schicksal war es immer, am Rand der westlichen Zivilisation Wache zu halten und als Erster geopfert zu werden“.  Auch der zweite Text von Malartschuk, auch wenn biographisch, trat ein im Dienste des Abends das Erbe von Paul Celan im Geiste fortzuführen und sich literarisch dem „Terror, Repressionen, Kriege, Hungersnot, Verwerflichkeit der Überlebenden“ zu stellen. Und so erfuhren die Zuhörer von der Großmutter der Autorin, die vor ihrem neunzigsten Geburtstag starb und sich gegen all das streng, aber gerecht behauptete.

Juri Andruchowytsch, der mit seinen Büchern mittlerweile zu den Klassikern der ukrainischen Gegenwartliteratur zählt, schloss den Abend und gewissermaßen die thematische Klammer mit einem Auszug seines schon 1992 auf Ukrainisch erschienen Buches „Rekreacij“, das jetzt in der deutschen Übersetzung als „Karpatenkarnaval“ vorliegt. Darin wird ein Fest des aufstehenden Geistes gefeiert und Andruchowytsch lässt in seinem Textauszug eine schier unendliche Prozession an maskierten Gestalten vorbeiziehen, um dem Zuhörer die Illusion zu schenken mit dem Umzug zu verschmelzen, ein Teil literarischer Wirklichkeit geworden zu sein. Besseres kann man von einem Literaturabend nicht erwarten.

Fotos: Tetiana Tolmachova

Plakat: Robert Glogowski

 

 

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